Berichte von 01/2018

Willkommen in Supperville

Mittwoch, 17.01.2018

„Ein Stück wie ein Verkehrsunfall, man kann einfach nicht wegsehen“ raune ich meinem Sitznachbar in der 13minütigen Pause zu. Auch er starrt gebannt auf die Akteure auf der Bühne, die während der Pause in ihrem Spiel innehalten. Es ist Mittwochabend, ich sitze in der Waggonhalle Marburg, wo die Performance "Supperville", ein ­Kooperationsprojekts des Fast Forward Theatres mit TheaterGegenstand und den Conscientious Mythmakers, aufgeführt wird.

Supperville

Noch 12 Minuten Pause.

Zwei Darsteller stehen direkt vor uns am Bühnenrand und blättern, für jede Minute die vergeht, ein Schild um, das die noch verbleibenden Minuten anzeigt. Trotz der offensichtlichen Pause bleibt es still im Saal, niemand steht auf oder sagt etwas. Langsam, sehr langsam, nach zwei Minuten, einer gefühlten Ewigkeit, erheben sich die ersten Zuschauer, um Getränke zu holen oder auf die Toilette zu gehen. Zeit um mit meinem Sitznachbarn die bisherigen Geschehnisse in Supperville zu diskutieren.

Noch 11 Minuten Pause.

"Supperville“ ein fiktiver Ort mit fiktiven Figuren, die sich jeden Abend neu erfinden.
Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist die Wohnung einer der Figuren, wo zum jährlichen Essen mit Familie, Freunden und Kollegen geladen wird. Natürlich darf auch ein gemeinsames Gruppenfoto nicht fehlen, schließlich will man ja die harmonische und seriöse Fassade nach außen aufrechterhalten.
Dass Setting ist wechselnd, die Szenerie bleibt jedoch gleich. Das Bühnenbild ist klar strukturiert und in mehrere Teilbereiche der Wohnung aufgegliedert, in denen die Handlung spielt. Zentral im Mittelpunkt steht die große Tafel, an der gespeist und getrunken wird, zudem bewegen sie sich die Figuren unter anderem zwischen Flipperautomat und Sofa mit Leseecke hin und her.

Noch 8 Minuten Pause.

Das Konzept des Stücks ist so einfach wie genial. Man nehme: mehrere Akteure, ein paar simple Regeln, ein grober Ablauf … der Rest ins Improvisation, eine Performance eben. Das Einzige, was für die Schauspieler zu Beginn des Stückes feststeht, sind ihre Namen und ihre Beziehungen zueinander, der Rest entsteht und vergeht auf der Bühne. Der Zuschauer wird zum Voyeur, die Akteure zu dramatischen und zugleich komödiantischen Schachfiguren der Regie. Denn diese entscheidet mit Zu- und Abschalten der Mikrophone, welcher Darsteller und welche Szenen gerade im Fokus stehen sollen. So entsteht ein unterhaltsames Chaos auf der Bühne, das klaren Regeln zu folgen scheint, die sich dem Zuschauer jedoch nicht zur Gänze erschließen.

Noch 5 Minuten Pause.

Gleich zu Beginn kommt der Voyeur in mir auch schon voll auf seine Kosten. Es wird getratscht, gelästert und gemobbt, Intrigen werden gesponnen und Geheimnisse schamlos offengelegt. Peinlich berührt fühle ich mich an die ein oder andere eigene Lebenserfahrung erinnert, gleichzeitig bin ich fasziniert, wie schamlos vor und hinter dem Rücken der ein- oder anderen Figur über diese gesprochen wird. Ich fühle mich stellenweise wie ein vom Auto geblendetes Reh, ich will nicht hinschauen, bin aber zu gebannt von der Handlung, um wegzusehen. Ich will wissen wie es weitergeht und ja, ich will sehen, wie sie sich zerfleischen. Es beruhigt mich in der Pause zu hören, dass es meinen Sitznachbarn ähnlich geht.

Noch 2 Minuten Pause.

Mein Sitznachbar und ich nutzen die verbleibende Zeit, um die Beziehungsgeflechte der einzelnen Personen zueinander herauszuarbeiten. Wer mit wem und warum oder warum nicht? Vielleicht sollten wir ein Genogram erstellen, nur reicht dafür die Zeit leider nicht mehr. So viele offene Fragen ... und warum überhaupt 13 Minuten Pause, warum nicht 10 oder 15?
Bis zur Pause konnten wir dem Geschehen auf der Bühne gut folgen, obwohl so viele Handlungsstränge parallel stattfinden. Auch wenn der Fokus gerade mal wechselt, fällt es leicht auch dem Geschehen zu folgen, auf das man als Zuschauer gerade seinen eigenen Fokus gerichtet hat. Mein Sitznachbar und ich sind zufrieden, sind wir uns doch sicher, als Profivoyeure wirklich alles mitbekommen zu haben.

Ende der Pause.

Es geht genauso rasant weiter, wie es begonnen hat, nein sogar noch rasanter. Irgendwann verliere ich dann doch den Überblick. Während ich noch der Gruppe mit den keifenden Frauen nachschaue, droht auch schon der Streit zwischen den Männern zu eskalieren, eine Prügelei droht. „Warum streiten die jetzt?“ flüstere ich meinem Sitznachbarn fragend zu. „Keine Ahnung, ist auch egal, ist doch lustig“ gibt dieser zurück.

Das Konzept von „Supperville“ geht auf, ich fühle mich unterhalten. Ich habe Spaß daran, dem improvisierten Treiben auf der Bühne zu folgen und lache zeitweise herzhaft laut über die ein oder andere Bemerkung und die tragische Komik einzelner Figuren. Es ist ein Stück, wie es das Leben auch schreiben könnte. „Es hat schon auch was Exhibitionistisches“ erklärt mir eine der Darstellerinnen hinterher, denn auch wenn sie nur eine Rolle spiele, so zeige sie doch auch die Facetten der menschlichen Persönlichkeit, die sonst hinter verschlossenen Türen bleiben, eben weil die Reaktionen, Worte und Handlungen von ihr improvisiert sind.

Es endet auf der Bühne, wie es begonnen hat. Das jährliche Abendessen neigt sich dem Ende zu, einzelne Paare tanzen, Schweigen erfüllt den Raum. Vieles wurde ausgesprochen und neben der Suppe und dem Wein auf den Tisch gebracht, geklärt wurde wenig, aber dafür bleibt ja beim nächsten Abendessen wieder Zeit, wenn wieder zum jährlichen Familientreffen in Supperville geladen wird.

 

Foto: Veranstalter